Erkerviertel
Die Bedeutung des Erkers
Im Wörterbuch für schweizerdeutsche Sprache findet man unter der Bedeutung von Erker die Beschreibung: „Vorbau, Vorsprung an einem altertümlichen Haus, Schloss, Turm, Tor zur Ausschau oder Verteidigung, oft verziert“, sowie „ausgebauter Teil eines Hauses.“
Sprachgeschichtlich betrachtet kann das deutsche Wort Erker einerseits auf das mittellateinische „arctuarium“ zurückgeführt werden, was soviel wie Schiessscharte bedeutet, andererseits handelt es sich dabei auch um ein etwa 1200 auftretendes Lehnwort aus dem nordfranzösischen „archière“, was als Mauerlücke, Bogenfenster, Schützenstand, bzw. Schießscharte übersetzt werden kann, welches sich damals zusammen mit dem Rittertum als Lehnwort eingebürgert hat.
Der Duden definiert den Erker schlicht und einfach als „geschlossener, mit Fenstern versehener Vorbau an Gebäuden“.
Die Geschichte des Erkers
In der islamischen Baukunst und im frühen Mittelalter wurde der Erker vorwiegend zu Verteidigungszwecken gebaut.
Erst ab der Spätgotik und der frühen Renaissance übernahm er die uns heute bekannte Funktion zur besseren Belichtung der Räume, wobei er auch immer mehr zum Schmuck- und Dekorationsmotiv der Hausfassade wurde, indem er Wohlstand und Reichtum symbolisierte.
Mit dem aufblühen des Fernhandels im 15. Jahrhundert floss viel Geld in die Stadt St.Gallen. Die günstige Entwicklung des Leinwandgewerbes sowie das Engagement der Kaufleute verhalf der Stadt allmählich zu solch einem finanziellen Aufschwung, dass sie bereits im 16. Jahrhundert bereits als „äusserst vermöglich“ gelten durfte.
Sowohl dieser Reichtum, als auch der Zustrom fremder Kunsthandwerker aus Italien und Süddeutschland übten ihren Einfluss auf das Stadtbild aus. Einfache Fachwerkhäuser aus Holz wurden durch anspruchsvollere Gebäude aus Stein ersetzt und die Aussenseiten der Zeit entsprechend prunkvoll ausgestaltet. So wie sich architektonisch gesehen in der Gotik die Fenster vermehrt hatten, so entwickelte sich in der Renaissance die Entstehung des Erkers.
Als charakteristisches Ausstattungsstück an Fassaden gelangte der Erker somit im ausgehenden 16. Jahrhundert zur höchsten Blüte, also in jener Zeit, in der auch die Stadt St.Gallen einen goldenen Aufschwung erlebte, und in der zahlreiche öffentliche Bauten errichtet oder entsprechenden Verschönerungen unterworfen wurden. Dazu gehörten beispielsweise das Rathaus am Markt, das Waaghaus, das Spisertor aber auch das spitzbogenförmige Karlstor mit seinem grossen Steinrelief. (siehe Link Karlstor)
Die Ära der Erker sollte aber nicht bestehen bleiben. Schreibt der Stadtarzt Bernhard Wartmann noch um 1795 in seiner umfangreichen „Geschichte zur Stadt St.Gallen“:
„Die Bürgerhäuser sind insgesamt wohl erbauen und seit dreissig Jahren ist die Stadt durch Erbauung grosser und meistens von Stein erbauter Häuser sehr verschönert worden. Viele dieser Häuser sind mit Erkern, um bessere Aussicht auf die Strasse zu haben, und mit starken steinernen Gewölbern versehen, in welchen die kostbare Leinwand und Musselin aufbehalten und vor dem Feuer bewahret werden.“
So äussert sich nur einige Jahre später schon der Dichter Gustav Schwab (1792-1850) in „Der Bodensee“:
„Die Stadt St.Gallen hat durch ihre breiten Strassen ein hohes, reichliches Ansehen, obgleich die Häuser ausser einigen öffentlichen und wenig neuen Privatgebäuden nicht geschmackvoll sind; viele sind vier- bis sechsstöckig und mit Erkern verunziert…“
Diese negative Äusserung des verunzierens war Teil des damaligen Zeitgeistes geworden. Die Erker waren aus der Mode gekommen, man betrachtete sie als „altfränkisch und unzeitgemäss“. So wurde dann in den 1840er Jahren der Bau von Erkern jeglicher Art St.Gallen verboten, teilweise wurden sogar bereits bestehende Erker zerstört und wieder von den Häusern entfernt.
In seinem „zuverlässigen Führer für Einheimische und Fremde“ von 1856 mokierte sich der Reiseschriftsteller Hermann Alexander Berlepsch:
„Bei einem Gang durch die Stadt selber zeigt sich uns wie bei allen alten Städten ein lebhafter Wechsel zwischen Altursprünglichen und Modern-Nachgewachsenem, und besonders werden die vielen Erker dem Wanderer auffallen, die oft noch an ganz alten unveränderten Häusern mit ihren närrischen, spukhaften Schnörkeln den reinen Eindruck des Urgrossväterlichen wiedergeben, oft aber auch an neugebauten Fassaden drollig genug und äusserst unbeholfen die alte Zeit mit der neuen verbinden wollen, wo uns dann bedünken will, dass die abenteuerlichen Fratzen und Gesichter noch verzerrter und mühsamer herabglotzen als an den Häusern, die ihr altes Gesamtaussehen noch nicht durch Maurer und Tüncher verloren haben.“
Erst als die Stickerei in der Jugendstilphase der Stadt zu neuem Aufschwung verhalf, kam auch der Erker wieder in Mode. Er wurde nun in seiner Funktion auch immer mehr als Stubenerker im Wohnhaus und zur Erweiterung der Wohnfläche genutzt. Der deutsche Dessinateur und Autor Friedrich Fischbach schrieb zu seiner Verwendung:
„Wie manches Haus würde seine langweilige Fassade verbessern und im Innern ein lauschiges Plätzchen für seine schönen Bewohnerinnen erhalten, die zwischen Blumen gern bei der Handarbeit plaudern und beobachten, was auf der Strasse und in der Nachbarschaft vorgeht.“
Einen amüsanten Aspekt zu den St.Galler Erkern bieten ausserdem die Bauakten und Protokolle der Herren oder Verordneten der dazugehörigen Gebäuden:
Als im 17. Jahrhundert mehr und mehr Bürger ihren eigenen Erker errichten wollten, kam es immer wieder vor, dass diverse Beschwerden und Einsprüche von Seiten der Nachbarn gegen den Erkerbau hervorgebracht wurden. Als Grund wurde meistens die Aussicht auf die Gasse angegeben, die erhalten bleiben sollte. Erlaubte die hohe Obrigkeit dann schliesslich einem Hausbesitzer die Errichtung eines Erkers, verlangten die Nachbarn als Entschädigung oftmals ebenfalls eine Baubewilligung, so dass in gewissen Jahren Haus um Haus mit Erkern geschmückt wurde. Die Erker in St.Gallen können somit also offenbar auch als Statussymbol betrachtet werden.
Spezielle Prunkerker im Klosterviertel
Der Greifs-Erker
Wer hier den Greifen am Erker sucht, der sucht vergebens. Es ist nämlich allein das Haus, das dem Greifs-Erker seinen Namen gegeben hat, welches bereits im ältesten Häuserverzeichnis der Stadt aufgeführt wird. Seinen Namen erhielt es wahrscheinlich nach einem „jetzt beseitigten, ehemals das Dach bekrönenden Greifen“.
Auch über den Erkerbau sind lediglich Spekulationen bekannt. Eine gängige Theorie besagt, dass die Tochter von Jacob Schlappritzi, der 1674 als äusserst vermögender Mann verstorben war, „das Bedürfnis verspürte, ihrem Vater einen Denkstein zu setzen“, indem sie Greifen und Erker am Hause anbringen liess. Eine weitere Theorie besagt, dass der Künstler Jacob Maria Stauder möglicherweise den Erker gebaut hatte, da seine Grosstante im Haus zum Greifen gewohnt haben könnte, oder in unmittelbarer Nähe, und dem mittellosen Maler zu einigen Gulden verhelfen wollte.
Der Erker selbst wurde aus Eichen- und Lindenholz geschnitzt, die Stützen sind als Löwenmasken ausgebildet. Die vier Brüstungsfelder tragen kunstvolle Reliefs mit biblischen Darstellungen, die auf Vorlagen von Matthäus Merian beruhen.
Bis heute kann nicht klar belegt werden, wer den Greifs-Erker entworfen, geschnitzt und gebaut haben könnte. Das Fresko an der Hausfassade daneben schuf der Kunstmaler Willy Koch anlässlich der Haus- und Erkerrenovation von 1943. Sie haben jedoch mit dem Erker nichts zu tun und stellen die menschliche Haltung zum Dämon „Gold“ dar.
1954 wurden bei einer gründlichen Restauration zwar zahlreiche Farbschichten abgetragen, ein mögliches Werkzeichen eines Künstlers kam aber nicht zum Vorschein.
1991 wurde der Greifs-Erker zuletzt renoviert und noch im selben Jahr mit dem Erkerpreis ausgezeichnet.
Der Pelikan-Erker
Ein besonders prunkvoller, zweistöckiger Erker befindet sich am Haus „zum Pelikan“, er wird daher auch der „Pelikan-Erker“ genannt. 1733 wurde das Haus erstmals urkundlich erwähnt und wechselte sowohl im 18. Als auch im 19. Jahrhundert häufig seine Besitzer. Erst 1982 wurde immerhin der Erker des Gebäudes restauriert, im Jahr 1992/93 restaurierte die Ortsbürgergemeinde das gesamte Gebäude sowohl innen als auch aussen nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten. 1994 wurde der Erker mit dem Erkerpreis ausgezeichnet.
Der Pelikan selbst thront hier ganz zuoberst in Gold und steht auf einem ebenfalls goldenen Nest, das die Dornenkrone Christi repräsentiert, was den Erlösertod symbolisieren soll. Der Pelikan reisst sich mit seinem Schnabel die Brust auf und nährt seine Jungen mit seinem eigenen Blut.
Getragen wird der Erker von einem grossen Adler mit mächtigen Flügeln, an deren beiden Seiten nochmals zwei Vögel an den Schwanzfedern von zwei Ungeheuern in den Mäulern gehalten werden. Daneben warnen mit lebhaften Armbewegungen zwei Janitscharen, also Angehörige der ehemaligen türkischen Kerntruppe, wie die Kopfbedeckungen vermuten lassen. Über ihnen sind die zwei Frontbrüstungsfelder aufgeteilt in die vier Kontinente (Australien war zu diesem Zeitpunkt zwar schon entdeckt, von Captain James Cook aber noch für die Britische Krone dem Empire zugeteilt gewesen, und galt somit noch nicht als Kontinent), die mit den zu der Zeit üblichen Allegorien der Erdteile geschmückt sind. Die Namen stehen jeweils in goldenen Grossbuchstaben darunter, an den Seitenbrüstungen sind Fruchtgewinde, Fratzen, Engelsköpfe und üppiges Dekor abgebildet.
Das Karlstor
Das Karlstor verdient besondere Aufmerksamkeit. Nicht nur da es der Stadt St.Gallen als einzig verbleibendes Stadttor erhalten geblieben ist, sondern auch weil seiner Erbauung eine höchst ungewöhnliche, um nicht zu sagen amüsante Geschichte zugrunde liegt.
Sein Name verdankt es dem Erzbischof und Mailänder Kardinal Karl Borromäus, der im Jahr 1570 bei seinem Besuch als erster hoher Geistlicher das Kloster durch das neu erbaute Tor betreten hat. Zuvor hiess es schlichtweg «Neues Tor» oder «Abtstor», da es der damalige amtierende Abt des Fürstabtei war, der nach langen Konflikten mit der Stadt schliesslich den Bau eines eigenen Tores durchsetzen konnte.
Dieser Umstand kann unter anderem auf den Reformator Joachim Von Watt, auch genannt Vadian (siehe Link Vadian) zurückgeführt werden, der im Jahre 1526 in der Stadt St.Gallen die Reformation durchgesetzt hatte. Dabei war allein das Kloster als Zentrum der katholischen Gebiete der Fürstabtei verblieben, die ganze restliche Stadt hatte den neuen Glauben angenommen. Die Abtei wurde aber rein baulich betrachtet noch immer von den alten Stadtmauern geschützt, was bedeutete, dass der Fürstabt stets durch die öffentlichen Tore die Stadt verlassen musste, wenn er seine Ländereien besuchen wollte. Dies führte sowohl auf der reformierten Seite der Stadt als auch auf der katholischen Seite des Klosters jedes Mal aufs Neue zu heftigen Konflikten.
Die gegenseitigen Beschwerden gingen so weit, dass im Jahr 1566 (unter Hinzuziehung von eidgenössischen Schlichtern) eine neue Lösung für dieses Problem gefunden werden musste, und der Abt letztendlich im sogenannten Vertrag von Wil das Recht erhielt, aus der hinteren Seite der Stadtmauer sein eigenes Tor zu brechen. Dazu wurde aber die Regelung eingeführt, dass auch das Tor zwischen Abtei und Stadt neu errichtet und mit zwei Schlössern versehen werden sollte, wobei der Abt und der Bürgermeister je einen Schlüssel erhielten. Im Gegenzug für das eigene Tor, von welchem der Abt nun ungesehen von der Stadt seine Abtei verlassen konnte, und das ohne dabei verlacht und geschmäht zu werden, musste er endgültig auf sämtliche Rechte über die Stadt St.Gallen verzichten. Das Karlstor wurde im Jahr 1570 fertig gestellt.
Auf den Steinreliefs sind die Wappen des damaligen Papstes und des alten deutschen Reiches abgebildet. In der Mitte beschützen Gallus und Otmar das Wappen des Klosters St.Gallen.
Seit dem 17. Jahrhundert ungefähr diente das Karlstor als Gefängnis. Seit 1812 ist dies auch urkundlich belegt, die historischen Texte verweisen in dieser Nutzung aber weiter in die Vergangenheit, da in der Urkunde berichtet wird, dass nach der Gründung des Kantons St.Gallen das Gefängnis ausgebaut wurde, um sich besser an die neuen Anforderungen für die Gesundheit der Häftlinge anpassen zu können.
Das Tor wurde dann 1930 noch einmal komplett restauriert. Im Jahr 1960 wurden die nördlich anliegenden Häuser teilweise abgerissen um die Hauptwache der Kantonspolizei St.Gallen neu aufzubauen, der das Karlstor bis heute als Untersuchungsgefängnis dient.
Gallus
Der irische Mönch Gallus (sein Name könnte entweder auf lateinisch „der Kelte“, oder umgangssprachlich auf „der Hahn“ zurückgeführt werden) zählte im ostfranzösischen Kloster Luxeuil zu den Schülern des irischen Abtes Columban. Von den Vogesen aus zogen die beiden im Jahr 610 zusammen mit weiteren Mönchen auf Missionsreise ins alemannisch-rhätische Grenzgebiet.
Anlässlich dessen, dass Gallus im Gegensatz zu Columban auch in alemannischer Sprache gepredigt hatte, sind sich die Historiker heutzutage nicht ganz einig, ob Gallus mit Columban zusammen aus dem Kloster Bangor aus Irland aufs Festland gekommen war, oder ob er selbst aus dem ostfranzösischen Raum Elsass-Vogesen stammte.
Columbans Missionsreise führte die Mönche den Rhein aufwärts in die Schweiz, den Zürichsee entlang über Tuggen nach Arbon, bis an den Bodensee. Auf dem Weg predigten die Mönche in zahlreichen Ortschaften, da sich viele inzwischen christlich gewordene Gemeinden wieder zurück zum Heidentum gewandt hatten.
Die in alemannisch gehaltenen, christlichen Predigten wurden von den Einwohnern jedoch nicht immer gutgeheissen, und die Mönche gerieten in einen heftigen Konflikt mit dem Alemannenherzog Gunzo, dessen Untertanen sich darüber beschwert hatten, dass die Mönche ihre einheimischen Gottheiten zerstört und in den See geworfen hatten. Nachdem zwei Mönche seiner Gefolgschaft in Folge dieser Streitigkeiten in einen Hinterhalt geführt und getötet worden waren, beschloss Columban sodann, weiter nach Süden in die Lombardei zu reisen, wo er auf Einladung des Langobardenfürsten ein neues Kloster gründen sollte.
Gallus war inzwischen schwer an einem Fieber erkrankt und komplett ausserstande, in seinem Zustand solch eine grosse Reise antreten. Er blieb in Arbon zurück, wo er von Priester Willimar gesund gepflegt wurde. Columban jedoch zürnte Gallus die Verweigerung seiner Gefolgschaft, und verbot ihm aus diesen Gründen jemals wieder das Messopfer zu feiern. Ferner entzog er ihm auch die Erlaubnis zu jeglicher weiterer Missionstätigkeit.
Nach längerem Aufenthalt in Arbon setzte Gallus zusammen mit dem Diakon Hiltibold seine Wanderschaft fort und folgte der in den Bodensee mündenden Steinach hinauf, bis tief hinein in den Arboner Forst, der sich damals vom Bodensee bis nach Appenzell erstreckte. Die zwei gelangten schliesslich an den Wasserfall der Mühleggschlucht, wo Gallus beinahe unglücklich in den Tod gestürzt wäre, wenn ihn nicht im letzten Moment ein Dornbusch aufgefangen hätte. Der Mönch interpretierte diese glückliche Fügung als ein Zeichen Gottes und fällte hernach den Entscheid, an dieser Stelle eine Klause zu bauen, die er Maria, Mauritius und dem heiligen Desiderius weihte.
Die Legende berichtet, wie Gallus eines Nachts am Lagerfeuer tief ins Gebet versunken war, als er plötzlich von einem riesigen Bären heimgesucht wurde, der sich bedrohlich auf die Hinterbeine aufrichtete. Als Gallus ihn jedoch erblickte verspürte er nicht den kleinsten Anflug von Angst, sondern befahl dem Tier in seliger Ruhe für sein Essen zu arbeiten und ein Stück Holz für das Feuer holen zu gehen, so tief war sein Gottvertrauen. Der Bär befolgte seine Worte, und Gallus belohnte ihn für seine Dienste mit einem Stück Brot. Danach befahl er ihm, sich in die Berge zurückzuziehen, wo er niemandem mehr schaden sollte. Der Bär sollte Gallus wichtigstes Insignium auf vielen Wappen und Abbildungen werden.
Obwohl Gallus als Einsiedler lebte, so sammelte er als guter Redner doch viele Schüler um sich, ging strikt gegen die ansässigen heidnischen Bräuche vor, und wurde so auch innerhalb kurzer Zeit schon als Streitschlichter und Weiser anerkannt. Nachdem er sogar die Tochter des verfeindeten Herzogs Gunzo von einer schweren Krankheit geheilt hatte, verbreitete sein Ruf sich durch die ganze Schweiz.
Als der Herzog sodann die Absicht hegte, den Bischofstuhl von Konstanz wieder neu zu besetzen, wollte er Gallus mit diesem wichtigen Amt betrauen. Gallus aber lenkte die Berufung auf seinen Schüler Johannes. Der Herzog akzeptierte diese Entscheidung und Gallus lebte weiterhin zurückgezogen in der Einsamkeit des Steinachtales.
Der Legende nach träumte er an Columbans Todestag von dessen Tod und schickte einen Diakon in die Lombardei, um sich davon zu überzeugen. Der Diakon brachte ihm daraufhin bei seiner Rückkehr den Krummstab des Columban als Zeichen seiner Vergebung. Im Jahr 629 kam schliesslich eine Delegation aus dem von Columban gegründeten Kloster Luxeuil mit der Bitte zu Gallus, dort als neuer Abt zu fungieren. Doch Gallus lehnte ab.
In seinen letzten Lebenstagen begab er sich auf dringende Bitten seines Priesterfreundes Willibald nach Arbon hin und predigte daselbst am Fest des heiligen Michael. Er brachte zwei Tage in seelsorgerischer Tätigkeit zu. Als er am dritten Tag wieder in seine Zelle zurückkehren wollte, erfasste ihn plötzlich ein tödliches Fieber und er starb sogleich an einem 16. Oktober. Dieser Tag wird auch heute noch als Gallustag gefeiert.
Sein Grab wurde zu einem lokalen Wallfahrtsort und seine Verehrung als Heiliger mit dem Symbol des Bären verbreitete sich rasch im süddeutschen Raum, dem Elsass sowie in der gesamten deutschsprachigen Schweiz.
Sankt Otmar
Nach der Legende des Heiligen Gallus im Jahr 612 kann die Gründung der Abtei St.Gallen im Jahr 719 durch Otmar nachgewiesen werden. Auch Otmars alemannische Herkunft kann sicher belegt werden, sowie seine Priesterausbildung, die er in Chur absolviert hatte.
Da Otmar als guter Schüler hervorstach und in seinem Wesen von allen sehr geschätzt wurde, betraute ihn der Tribun Waltram von Thurgau mit der Aufgabe, sich der von Gallus gegründeten Mönchsgemeinschaft anzunehmen.
Die Grabstätte des heiligen Gallus war zu dieser Zeit schon beinahe gänzlich zerfallen und bereits mehrmals ausgeraubt worden, ein Zusammenhalt der ansässigen Ordensbrüder war kaum mehr auszumachen. Erst als Otmar die religiöse Siedlung von Grund auf neu strukturierte, das Gebiet vor Eindringlingen sicherte und somit eine neue, solide Basis für die ansässige Mönchsgemeinschaft schuf, konnte daraus das Kloster St.Gallen erblühen, das sich in kurzer Zeit sehr reichhaltig entwickelte.
Auch unter den immer stärker werdenden politischen Spannungen zwischen Alemannen und Karolingern führte Otmar das prächtig gedeihende Kloster weiterhin unter sicherer Hand, und verhalf ihm weiterhin zu grossem Aufschwung. Für ihn zählte nicht nur das geistliche Leben, sondern auch die Unterstützung und Pflege von Kranken und Bedürftigen, für welche er einen passenden Rahmen zu schaffen gedachte. Er liess sodann eine Herberge für die Armen aufbauen und eröffnete ein Leprosenhaus, welches medizingeschichtlich belegt als erstes Spital der Schweiz dokumentiert werden kann.
Otmar begründete nicht nur das Fundament für die karitative Arbeit in St.Gallen, sondern legte auch grossen Wert darauf, sich persönlich um die Patienten und Hilfesuchenden zu kümmern, was auf Seiten des Volkes sehr geschätzt wurde. Das Kloster St.Gallen erlangte bald seine Selbstständigkeit und erhielt immer wieder Schenkungen von Grundbesitz in ganz Alemannien.
Zusammen mit Otmars Volksnähe, deren humanitärer Charakter der traditionellen Rolle eines Abtes widersprach, sorgte sein Wirken bei der fränkischen Grafschaft zunehmend für Aufsehen und Missfallen. Heftige Auseinandersetzungen bezüglich Landbesitz zwischen Grafen und Kloster waren die Folge. Hinzu kamen Herrschaftsansprüche des Bischofs von Konstanz, der St.Gallen gänzlich als Eigenkloster seinem Bistum unterstellen wollte.
Diese Spannungen führten 759 schliesslich zur Verurteilung und Gefangennahme Otmars. Er wurde unter falschen Anklage von Ehebruch und Sittlichkeitsverbrechen zum Tode durch Verhungern verurteilt. Die Strafe konnte zwar abgemildert werden, als Begnadigung wurde Otmar jedoch auf die Insel Werd bei Stein am Rhein ins Exil geschickt. Dort starb er noch im selben Jahr am 16. November 759 in einsamer Gefangenschaft.
Mit der Überführung seiner Leiche nach St.Gallen im Jahr 769 begann auch die Rehabilitierung Otmars. 864 wurde er heilig gesprochen und seine Gebeine in die zu seinen Ehren erbaute Otmarskirche verlegt. 878 wird Otmar erstmals als zweiter Klosterpatron St.Gallens genannt. Seine Verehrung verbreitete sich zusammen mit dem Gallus-Kult über die ganze deutschsprachige Schweiz und weite Gebiete Deutschlands.
UNESCO Welterbe / Stiftsbezirk und Kathedrale St.Gallen
UNESCO steht für «United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization» (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur). Sie ist eine von 16 Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und hat ihren Sitz in Paris. Derzeit sind 195 Mitgliedstaaten in der UNESCO vertreten.
Die Leitidee der UNESCO lautet:
«Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.»
Sie steht in der Präambel ihrer Verfassung, die 37 Staaten am 16. November 1945 in London unterzeichnet haben. Aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges zogen sie die Lehre: «Ein ausschliesslich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden».
Die UNESCO hat die Aufgabe, «durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern in Bildung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit beizutragen». Am 4. November 1946 trat die Verfassung der UNESCO in Kraft.
Kathedrale St. Gallen
Die Stiftskirche St.Gallen wurde 1983 zusammen mit dem Stiftsbezirk als UNESCO-Welterbe in die Liste der schützenswerten Weltkulturgüter aufgenommen.
Nachdem die St.Gallus-Krypta mehrfach erneuert, und 867 die St.Otmars-Kirche im Westen angebaut wurde, erfolgte auch dort um 980 der Bau einer Krypta, die noch heute als Grablege der Bischöfe dient.
1439 – 1483 wurde der gotische Chor errichtet, auf den Bildersturm von 1529 folgten mehrere Erneuerungen, bis schliesslich 1755 die Errichtung eines vollständigen Neubaus der Rotunde mit Schiff sowie dem neuen Chor mit der imposanten Doppelturmfassade folgte.
Die kunstgeschichtliche Bedeutung der Kathedrale als spätbarockes Sakralmonument, das zwischen Rokoko und Klassizismus steht, liegt auf der Hand. Die Harmonie der Räume mit korrespondierenden Längsbauten nach Osten und Westen schwingen zusammen mit dem kreisrunden Mittelbau in vollkommenen Einklang, und erfüllen so die typisch barocken Charakteristika.
Die eindrücklichen zwei Türme mit ihren grün schimmernden Dächern sind 68m hoch, ihre neun Glocken ertönen in barockem Geläut. Es ist das tiefste Geläut der ganzen Schweiz, selbst das Berner Münster wird von der St.Galler Dreifaltigkeitsglocke an
Tontiefe übertroffen. Das Gesamtgeläut entspricht musiktheoretisch keiner erkennbaren harmonischen oder melodischen Struktur, was deutlich zu seiner Unverkennbarkeit beiträgt.
Die Aussenfassade der Stiftskirche ist sehr schlicht gehalten, einzig die markanten Statuen der vier Schutzheiligen – Gallus, Otmar, Petrus und Paulus – bewachen das Nordportal.
Im Innern zeigen die Bilder in der Rotunde die Ankunft Gottes in Gegenwart der Seligen, in den grossen Kuppeln sind Gallus, Otmar, Wiborada und weitere Heilige sowie Schutzpatrone der Stadt abgebildet. Farblich dominieren vor allem die dunklen, rauchigen Gewölbemalereien und die malachitgrünen Stuckaturen.
Zwei barocke Chororgeln mit je 34 Registern, sowie die wunderschöne, grosse Domorgel mit 74 Registern auf der speziell im Jahr 1810 dafür gebauten Empore komplettieren das Bild der göttlichen Pracht.
Die Kathedrale St.Gallen ist eines der letzten monumentalen Sakralbauten mit barockem Charakter und sollte als individuelles Meisterwerk betrachtet werden.
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